Manche mögens hart:
Kind, Beruf und büffeln für´s Abi
Der schwere Weg zu mehr Qualifikation
VON ANDREAS KLAMM
Mannheim. “Ich schaffe das bald nicht mehr”, stöhnt Sonja Wiegand völlig erschöpft. Sie ist Schülerin am Abendgymnasium der Abendakademie Mannheim und lernt für die nächste Mathematik-Arbeit. Algebra ist angesagt: Polynomdivision, Bruchungleichungen und Termumformungen werden geprüft.
Sonja Wiegand, 28, alleinerziehende Mutter eines sechsjährigen Sohnes, besucht seit Juli letzten Jahren den Unterricht in der Klasse 1 b im Pavillion des Lessinggymnasiums. Fünfmal in der Woche Streß ab 17.30 Uhr, gepaukt wird bis 20.45 bzw. 21.30 Uhr.
“Du kommst abgeschlafft nach Hause und dann sitzt der Sohnemann auf der Matte: Mama, liest du mir noch eine Geschichte vor?…”
Sonja Wiegand ist eine der jährlich siebzig Lernwilligen, die auf dem zweiten Bildungsweg ihr Abitur am Abendgymnasium nachmachen wollen. Etwa ein Drittel der Schüler haben bereits die Mittlere Reife. Ein Drittel der Teilnehmer bringt den Hauptschulabschluß mit und kann am Ende des zweiten Jahres einen der Mittleren Reife gleichgestellten Abschluß erwerben. Meist sind es junge Menschen, die mit dem Abitur ihre berufliche Chancen verbessern wollen. Die Leute, die sich für den stressigen Weg des Abendgymnasiums entscheiden, wollen etwas erreichen und arbeiten hart dafür.
Bafög-Unterstützungen sind erst in den letzten eineinhalb Schuljahren möglich. Die Abendgymnasiasten sind für die Dauer von vier Jahren immer wieder Belastungs- und Zerreißproben, einer stetigen Motivationsfrage, manchmal auch dem Nervenkrieg ausgesetzt. Die Zahl derer, die nach ein oder zwei Jahren immer noch “abspringen” ist nicht gering. Einige bleiben nach den Ferien einfach weg, geben auf.
Die Abendschüler müssen auf Freizeit und viele andere Dinge verzichten. Nicht selten gehen Freundschaften zu Bruch, bei manchen knistert es zeitweise sogar in der Ehe.
Unterrichtet werden die Fächer Englisch, Deutsch, Französisch, Latein, Geschichte, Biologie, Physik, Chemie und Mathematik.
Sonja Wiegand hat die Mittlere Reife und bereits eine abgeschlossene Berufsausbildung als Buchhändlerin. Zur Zeit arbeitet sie bei der Stadtbücherei in Lampertheim. Im hessischen Lampertheim lebt sie auch. “Ein großer Nachteil”, wie die 28-jährige meint. Denn neben Beruf, Kind und Haushalt muss sie damit auch noch lange Anfahrtswege zur Schule managen. Die Verbindung ist trotz VRN-Tarifverbund nicht besser geworden. Zwei Stunden ist sie täglich zwischen der Schule und ihrer Wohnung unterwegs. “Neben dem täglichem Streß bin ich seit Monaten vergebens mit meinem Sohn auf der Suche nach einer kleineren Wohnung in Mannheim”, erzählt Sonja Wiegand völlig niedergeschlagen. Die Wohnungsmarkt-Situation ist verheerend.
Täglich um 6 Uhr muß die junge Mutter mit ihrem Sohn aufstehen. Um 7.45 Uhr geht sie aus dem Haus, ihren Sohn Nathan nimmt sie mit zur Arbeit, in der Frühstückspause bringt sie ihn zur Schule. Schwierig wird´s am Abend: Sie muß zur Schule, wohin mit Nathan? “Wenn mein Kind spielen möchte, habe ich oftmals keine Zeit.” Einen Babysitter hat sie nicht. Das bereitet ihr jeden Abend Kopfzerbrechen, da sie dann auf die Hilfe von Freunden oder Bekannten angewiesen ist, die sich um den Sohn kümmern und ihn zu Bett bringen. Wenn sie niemanden findet, muß sie zuhause bleiben und versäumt den Unterricht. Dabei ist jede Stunde, jeder Tag wichtig. Den versäumten Unterrichtsstoff muß Sonja nacharbeiten. Wenn sie abends gegen 22 Uhr oder halb elf nach Hause kommt muß sie noch Hausaufgaben machen und für die nächste Arbeit lernen. Ihre Lieblingsfächer sind Englisch, Geschichte und Deutsch. Für Mathe paukt sie fleißig. Sonja Wiegand ist zuversichtlich, das Abitur zu erreichen.
Wenn sie ihr Abi hat, möchte sie Judaistik studieren. Etwas mehr Glück als bisher, erhofft sie sich bei der Wohnungssuche in Mannheim. “Dann würde die lange Fahrzeit entfallen und ich hätte mehr Zeit für meinen Sohn”, meint Sonja. WOCHENBLATT-Leser, die helfen wollen, können uns unter unserer Redaktionsnummer 0 621 162 233 verständigen.
::Hintergrund::
Für diese Erfahrung mit einigen wenigen Zeilen in einer regionalen Wochenzeitung, einem Menschen helfen zu können, bin ich heute noch vom ganzem Herzen dankbar.
Speziell natürlich immer noch der Familie aus Mannheim-Seckenheim, die meinen Beitrag las und aus dem Herzen mit der Tat der Liebe handelte, für alle meine Leser und speziell auch meiner damaligen Chef-Redakteurin Anneliese Donner, die mir die Gnade schenkte, meinen Artikel als Leit-Artikel auf der Titelseite zu drucken, mich liebevoll verbesserte und immer noch einen Rat und Idee hatte, wenn mir diese fehlten.
Anneliese Donner schätze ich sehr und danke ihr mehr als 15 Jahre nach diesem Ereignis noch heute aus ganzem Herzen.
Ohne den Fotografen Günter Thomas wäre dieser Beitrag nicht “lebendig” geworden. Ich schätze ihn sehr und danke für all seine Hilfe.
Der damaligen Mitschülerin* Sonja Wiegand mit Sohn Nathan danke ich noch heute noch für die Freude und für die Gnade, dass sie mir von ihrer Not erzählte, die dazu führte, dass ich nach Hilfe in einem Zeitungsartikel fragen und wir diese auch finden durften.
* Mitschülerin bedeutet: Sonja Wiegand und ich als Autor des Beitrages besuchten gemeinsam die selbe Klasse im Abendgymnasium in Mannheim. Zeitgleich war ich als Redakteur beim Wochenblatt in Mannheim beschäftigt, weswegen der Artikel und dessen Veröffentlichung möglich wurden.
Herzliche Grüße an alle Dozenten, Lehrer, Schüler der Klasse 1b des Abendgymnasiums Mannheims im Lessing-Gymnasium (Kurs 1989).
Besonders liebe Grüße an Sonja Wiegand und ihren Sohn Nathan.
DANKE an alle ! Alles Gute wünscht…
Andreas Klamm, Tel. 062 36 41 68 02
Erst-Veröffentlichung: Wochenblatt Mannheim, 1990
Zweit-Veröffentlichung: British Newsflash Magazine, IFN d734 News Magazine – Dokumentation – Mit Schreiben kreativ helfen. Sonder-Reihe, 2005